Die digitale Neuformulierung des Verhältnisses von Geist und Körper

Das Leib-Seele-Problem als Matrix der abendländischen Welt

Unsere traditionelle Wirklichkeitskonstruktion gründet auf der schematischen Gegenüberstellung von Geist und Materie. Dieser Dualismus aktualisierte sich im Verlauf der abendländischen Geschichte in einer langen Reihe spezifischer Dichotomien: Gott und Welt, Jenseits und Diesseits, Leib und Seele, Formen des Seins und des Bewusstseins, Idealismus und Materialismus, Kultur und Natur, Kunst und Ökonomie, Mensch und Maschine, Innen und Außen oder auch: innere und äußere Welt. Durch klare Grenzen und Unterscheidungen ließ sich diese Polarität erkenntnispraktisch verankern: Geist war, was nicht Materie, Materie, was nicht Geist ist. Allen diesen Konstellationen war gemeinsam, dass sie den Bereichen des Geistigen und des Materiellen jeweils eine eigene Struktur und Ordnung, einen eigenen Ort zuwiesen. Das taten sie auch dort, wo sie prinzipiell die vielfältigen Interferenzen und Interdependenzen zwischen beiden anerkannten.

Kulturelle Praxis besteht in einem komplex verwoben Miteinander von Objekten und Subjekten, von Geist und Materie. Aber selbst da, wo sich dieses Miteinander stark verdichtet hatte und seine Dynamik und Komplexität sprunghaft anstieg, etwa in der historischen Moderne, wurden die zu Grunde liegenden Sphären von Geist und Materie als prinzipiell rein und unvermischt, als problemlos voneinander ablösbar und essentiell getrennt, vorgestellt. Das jeweils Andere an ihnen ließ sich – zumindest in der reflexiven Durchdringung – rückstandsfrei herauslösen.

Ihre je eigene Qualität besteht in einem solchen Horizont gerade in dem Bedingungsverhältnis, in dem sie zueinander stehen: Geist bedarf der Materie, um sich zu realisieren, Materie des Geistes, um zu einer Gestalt zu gelangen, die über die Kontingenz der Naturform hinausgeht. Um dieses kulturstiftende Verhältnis nicht aufzulösen oder preiszugeben, musste sich der Geist, in der Vorstellung, die er sich von sich selbst machte, immer wieder vom Materiellen abstoßen. So hoffte er, nicht der materialistischen Diesseitseinseitigkeit zu verfallen, die sich Descartes in seiner erkenntnistheoretischen Grundlegung autonomer Subjektivität nur als Täuschungsanfälligkeit vorstellen konnte: Auf was kann ich mich verlassen, wenn es doch vorstellbar ist, das das, was ich wahrnehme, nur Vorspiegelung eines Dämons ist, der mir etwas vormachen will. So lautete das imaginäre Szenario, in dem er zum Subjekt als rein-geistige Materialisation gelangte. Descartes’ Vorstellung vom Geist als das, was sich aus den Verstrickungen in die Welt zurückzuziehen vermag, auf das, was er essentiell selbst ist, hat unsere Ideen vom Geist und von der Welt über die Jahrhunderte hinweg implizit geprägt, und hierher rührt das Misstrauen des Geistes gegenüber der Welt, eben weil diese seine Reinheit immer wieder mit Kontamination bedroht.

Aus der Angst, Geist könnte immer da sein Spezifisches verlieren, wo er sich mit Materie einlässt, etablierte sich bereits früh jene ideologische Matrix, die über die Jahrtausende hinweg erkenntnispraktische Folgen hatte – von der antiken griechischen Philosophie bis in die bildungsbürgerliche „Kulturreligiosität“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Zwar musste sie sich immer aktualisieren, um sich einem sich verändernden gesellschaftlichen Leben einzupassen, aber ihre Grundaussage blieb dennoch weitgehend stabil: Das hierarchische Verhältnis, in das Geist – als höheres Prinzip – und die niedriger veranschlagte Materie gebracht waren, konnte sich durch alle äußerlichen Veränderungen und Neuformulierungen des Ideenkerns hindurch erhalten. Bereits Platos antike Ideenlehre hatte den vorfindlichen Weltdingen eine abstrakte Welt der Ideen beigeordnet, die gleichsam überhistorisch, also geschichtslos, über ihren jeweiligen konkreten Manifestationen im menschlichen Kulturleben schweben, in denen sie zu ihren wechselhaften und zeitspezifischen Gestalten gebracht sind. Jedem gegebenen Objekt ist dabei eine „platonische“ Ideenform vorgängig, die nie ganz in diesem aufgehoben, das heißt in ihrem vollen Umfang realisiert sein kann. Später übernahm das in Europa hegemonial gewordene christliche Denken diese platonische Denkfigur, die sie in der besonderen Beziehung von Gott und Welt neu interpretierte. Die Schöpfung war dabei der sekundäre Vollzug eines primären schöpferischen Potentials, das allein Gott zukam.

Dieses Potential wurde im Zuge der Aufklärung säkularisiert, nämlich zum genuin menschlichen Potential umgedeutet. Der Mensch wurde so vom Geschöpf zum Schöpfer befördert. Seine technologischen oder kulturellen Hervorbringungen waren Materialisierungsformen eines menschlichen Erfindungsgeistes, der aber wiederum auch Distanz zu dem von ihm Geschaffenen wahren musste. Allein dadurch konnte er frei sein und es auch bleiben – „ungebunden“ und „autonom“ –, indem er sich vom Bereich des Materiellen, seinem Gestaltungs- und Spielmaterial, fundamental unterschied. Insofern hat Geschichtsschreibung oft der Person des oder der Erfindenden (als Gefäß, in dem sich der abstrakte Geist artikuliert) mehr Bedeutung eingeräumt, als ihren Schöpfungen. Der historische Begriff des „Genies“ ist die Bekenntnisform der Bewunderung des Schöpferischen in den SchöpferInnen, weniger dessen, was sie geschaffen haben: Das geniale Werk wird eben darum bewundert, weil sich in ihm das Genie ausdrückt, nicht umgekehrt. In dieser Weise haben das 18. und  19. Jahrhundert die Idee vom „autonomen Geist“ in einer Weise aufbereitet und rezeptionsästhetisch tradiert, die bis heute wirksam ist. Die autonome Existenzweise des Menschen, wie sie sich symbolisch in der ästhetischen Form des Kunstwerks und in der biographischen des Genies darstellt, ist die seit einigen Jahrhunderten virulente zeitgemäße Neuformulierung der Fundamentaldifferenz von Geist und Materie.


Der Entzug des Unterschieds von Geist und Materie im digitalen Zeitalter

Diese kategoriale Unterscheidung wird jedoch an der Stelle brüchig, wo das Materielle aufhört, als feste und gleichsam autonome Bezugsgröße für sich zu existieren. Denn je schärfer und genauer Wissenschaft und Technologie „die Materie“ in ihren Blick und ihre Mangel genommen haben, desto stärker begann sich die vormals unverbrüchliche Evidenz des Materiellen (als spezifisch ontologische Kategorie) aufzulösen, und zwar in den Objekten der Materie selbst. Die vormals fraglose und scheinbar selbsterklärende Differenz zwischen „Geist“ und „Materie“ verflüchtige sich zusehends: Die Naturwissenschaften erschlossen vormals unbekannte Dimensionen des Materiellen, z.B. die mikroorganisationale Ebene der Atome als Konstitutionsebene von Welt. Die Geisteswissenschaften entwarfen ein neues, materialistisches und mitunter technizistisches Verständnis von Geist, das menschliche Bewusstseinsinhalte und Geistesvermögen als von ihren stofflichen Bedingungen her determiniert begriff. Und die waren infolgedessen nicht länger bloß das Vehikel oder eine Werkzeugkiste für den Geist. Bei Ferdinand de Saussure wurden die sprachlichen Zeichen selbst, bei Marshall McLuhan die kommunikativen Mittel – „die Medien“ – zum Ursprungsort von Bewusstsein erklärt. Und mit der Psychoanalyse verlor dieses seine autonome Form, in dem das „Ich“ ein „Es“ und ein „Wir“ (nämlich das Über-Ich) als Supplemente erhielt. Bewusstsein wurde damit Bestandteil eines psychischen Apparats, der tendenziell analog zu jenen Maschinen gedacht werden konnte, die es selbst ersonnen hatte. Und dieser psychische Apparat wiederum war ein Effekt weltlicher Bedingungsverhältnisse. In ihm reicherten sich Erfahrungen an, und wurden – überspitzt gesagt – in Programmen verarbeitet: Verhaltensmuster zum Beispiel.

Zumindest beeinflussten die Welt, in und mit der die Menschen ihre Erfahrungen machten, das Bewusstsein in einer Weise, die es erschwerte, weiterhin einen autonomen Bewusstseinskern in jenes psycho-physischen Gespinst zu setzen, das sich sukzessive durch Psychologie, Neurobiologie und Kybernetik erhellte. Überhaupt traten im 20. Jahrhundert verstärkt neuere naturwissenschaftliche Disziplinen in die Fußstapfen der älteren Geisteswissenschaften, wenn es darum ging, unser Denken und die Prozesse, die es konstituiert, zu verstehen.

Wo sich also das klassische, antik vorgeprägte Verständnis – durch all seine geschichtlichen Veränderungen hindurch – den Geist weitgehend statisch und ahistorisch vorgestellt hatte, das heißt abgezogen von den sich verändernden Formen menschlicher Kultur, wurde er in den Theorien von Moderne und Postmoderne (von der Evolutionsbiologie bis zur Gendertheorie) immer mehr zum Produkt eben dieser Veränderung. Dabei ging es nicht nur darum, die alte Entkörperlichung des Gedankens als erkenntnistheoretisches Problem aufzuheben. Ganz allgemein wurden damit die Grundüberzeugungen über den Status des Menschen in der Welt erschüttert.

Das Prinzip der digitalen Verarbeitungsweise von Information verkomplizierte die traditionelle Entgegensetzung von „Geist“ und „Materie“ noch weiter. Der binäre Code, der den digitalen Erscheinungen zu Grunde liegt, lässt sich nämlich nicht mehr sinnvoll und jedenfalls keineswegs zweifelsfrei in einem solchen dualen System verorten. Die physische Objektgestalt, die lange Zeit emblematisch den Materie-Pol verkörpert hatte, hat in vielen Bereichen – allen voran in dem der Medialität als Leitinstanz der Alltagswahrnehmung – virtuellen Speichern für codierte Informationen Platz gemacht. Dass sich rechnergestützte Datenverarbeitung nicht eindeutig und jedenfalls nicht restlos der Materieseite zuschlagen ließ, zeigte sich schon darin, dass die dualistische Denktradition zunächst versuchte, den Dualismus in eine Rechnerwelt zu übertragen, in der sie Hard- und Softwarekomponenten vorfand. Kurzerhand nahm sie an, es handle sich um zwei kategorial voneinander getrennte Bereiche: den „Geist“ und den „Körper“ des Computers.

Mit dem Internet erweiterte sich die räumliche Welt dann noch um eine virtuelle Raumdimension, die längst nicht mehr nur als Speicher- und Kommunikationsmedium fungiert, sondern sich immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens einverleibt und dabei ein Eigenleben zu entwickeln scheint, in dem wir bewusstseinsanaloge Formierungen ausmachen können, die freilich selbst wiederum nur Übertragungen – in Form von Analogien und Metaphern – darstellen. Die im Prinzip imaginäre Form des Internets hat manchmal dazu geführt, es als eine Art Meta-Geist miss zu verstehen, der über oder außerhalb der materiellen Welt existiert. Der problematische Begriff der „Virtualität“ enthält und befördert diese Lesart. Tatsächlich aber kann das Netz nicht mehr in der (ausschließlich) einen Weise beschrieben werden. In seiner nachgerade „queeren“ Ambivalenz zwischen Objekt und Geist, zwischen Materialität und Idealität, durchbricht es den althergebrachten Dualismus von Geistigkeit und Körperlichkeit. Dieser Dualismus ist dadurch natürlich noch nicht einfach obsolet geworden, aber durch die Existenz eines Dritten, das weder das eine noch das andere ist und dennoch Aspekt von beidem auf sich vereint, wird die starre Opposition, in der sich Objekt und Geist über die Jahrhunderte hinweg gegenüberstanden, allmählich aufgeweicht.

Den ontologischen Status des Internets beschreibt wohl am ehesten die umgangssprachliche Kurzform vom „Netz“. Das „Netz“ des Internets setzt dabei nicht bloß unterschiedliche Computerschnittstellen weltweit in ein nicht-hierarchisches Beziehungsverhältnis, sondern ebenso Begriffe und Kategorien unterschiedlicher kultureller Vorstellungswelten. Als Leitmedium der Gegenwart hat es die digitalen Herstellungs-, Verarbeitungs- und Verbreitungsweisen von Information in sehr vielen Bereichen unserer kulturellen und sozialen Praxis als Standard etabliert. Und in dem Maße, in dem informationelle und organisationale Formen des Netzes unser Leben in seinen alltäglichen Vollzügen durchdringen, durchdringt das Digitale auch unseren Körper. Er wird deswegen jedoch nicht gleich zur Schnittstelle gemacht, wie populäre Cyborgfantasien sich das wünschen und es zugleich fürchten. Aber auf der lebenspraktischen Ebene sind wir doch dabei, mit dem Computer zu verschmelzen und „digitale Alltagsmonaden“ zu werden.

Zum Beispiel haben Netz und Computer Folgen für unsere raumzeitliche Organisation. Zeitstruktur und -signatur der digitalen Gesellschaft haben die durch den Prozess der Industrialisierung hervorgebrachte Zeit verändert, die sich aus der spezifischen Taktung der Produktionsmittel ergab. Die mechanische, gleichförmige oder „fordistische“ Zeit wird in der Digitalisierung beschleunigt, entzerrt und flexibilisiert. Und damit natürlich auch (in einem noch fordistischen Sinne) optimiert. Produktion und Reproduktion – die beiden einander periodisch ablösenden Zyklen des Produktionsprozesses – waren unter den fordistischen Bedingungen der Fabrik und ihrer Arbeitsplätze (als ausschließlich durch Arbeit definierte Orte) große und vor allem geschlossene Zeitblöcke. Ihr beständiger Wechsel strukturierte das Leben der in sie eingeschlossenen Subjekte in derselben Weise, wie dies der „natürliche“ Wechsel des Tageslichts tat.

Die simultane Zeitlosigkeit des Netzes erlaubt dagegen eine kaum überschaubare Vielfalt individueller Zeitorganisation. Ebenso werden unsere Wahrnehmungsweisen digital strukturiert, was Auswirkungen auf unsere Psyche, auf unsere Subjektivität, unsere Sinnlichkeit und Reflexivität hat.  Dies ist keineswegs neu, denn schon immer hat die hegemoniale technologische und ökonomische Kultur den Körper und den Geist des Menschen umgebildet oder vielleicht auch erst hergestellt. Es macht das Wesen und den Sinn von Technologie aus, uns ihren Darstellungs- und Darbietungsformen zu adaptieren und geschmeidig zu machen. Neu ist allerdings das Ausmaß, in dem dies durch Digitalisierung möglich wird. Dadurch entsteht der Eindruck, wir hätten aktuell Teil an einem gesamtkulturellen Paradigmenwechsel, dessen Tragweite noch nicht abzuschätzen ist. Die alte Techno-Utopie von der Neuerfindung des Menschen im Zeichen der Digitalität (etwa als Cyborgwesen in Science-Fiction-Erzählungen) erhält hier ihre Plausibilität.

Seit den ersten steinzeitlichen Werkzeugen war Technologie ein Versuch, den mangelhaften menschlichen Körper durch Prothesen zu ergänzen, zu erweitern oder zu ersetzen. Der Computer realisierte dies dann erstmals auf der intelligiblen Ebene, nämlich als eine Form der „künstlichen Intelligenz“. Die künstliche Intelligenz wurde eine ebensolche, weil es ihr gelang, zwei elementare Funktionen des menschlichen Gehirns in ein und demselben Gerät zu simulieren: die Rechenmaschine und das Archiv. Anders gesagt: die Speicherfunktion und die Fähigkeit abstrakte Codes zu prozessieren. Wie das menschliche Gehirn organisiert der Computer nicht einfach nur Wissen, sondern er ist in der Lage, es zu operationalisieren, also damit zu „denken“. Das blieb bislang dem menschlichen Gehirn vorbehalten. Erst mit dem Computer gelang die Auslagerung menschlicher Gehirntätigkeit in einem erweiterten und automatisierbaren Sinne, wodurch auch Operationen möglich wurden, die weit über das hinausgehen, was das menschliche Gehirn zu leisten vermag.


Digitale Kunst und Kultur als bewusste Mitgestaltung am Paradigmenwechsel

Dass es sich beim Prozess kultureller und technologischer Digitalisierung nicht lediglich um einen Alltagsausschnitt handelt, der gleichwertig neben anderen Lebensaspekten und -bereichen steht, lässt sich daran erkennen, dass sich längst eine eigene digitale Kultur herausgebildet hat. „Digitale Kultur“ ist dabei nur der Überbegriff für eine unüberschaubare Vielfalt an Organisationsweisen und Kommunikationsformen, in denen sich unser digitaler Alltag ebenso abbildet wie hervorbringt. Und so wie das Digitale den alten Unterschied von Geistigkeit und Körperlichkeit aufzuheben vermochte, löst der digitalisierte Alltag auch die Segmentierung der industriellen Lebensweise in Bereiche von Arbeit und Freizeit auf. Das Digitale erschafft nicht nur neue und kategorisch andere professionelle Tätigkeitsformen. Es überwölbt ebenso die verschiedenen Bereiche unseres Alltags: solche, die sich dem Bereich der Produktion und solche, die sich dem Bereich der Reproduktion zuordnen lassen. Nach oder während der digitalen Arbeit findet digitalisierte Freizeit statt, und ebenso digitale Sozialität, die über das Netz kommuniziert, Bekanntschaften schließt usw. Das wirft dann allerdings die Frage auf, ob die so entstehende digitale Gesellschaft die klassische Entfremdungsstruktur einer kapitalistischen Gesellschaft eher überwinden oder sogar noch potenzieren wird.

Was Digitalität jedoch bedeutet und wie wir uns von ihr formen lassen, müssen diejenigen entscheiden, die die digitale Welt bewohnen werden. Die digitale Kultur, die uns umgibt und strukturiert, entsteht in unserer eigenen Praxis, der wir uns nicht wie einem Schicksal überlassen sollten, sondern der wir uns bewusst stellen müssen, zum Beispiel indem wir uns als Digitale Kultur verstehen. Mit einem solchen Selbstverständnis können wir gestalterisch besser und auch genauer in die Kultur des Digitalen eingreifen, die unsere Subjektivität schon jetzt überformt und noch folgenreich verändern wird.

Wie wir in einer digitalen Welt leben, also kommunizieren, uns entspannen, arbeiten und Erfahrungen machen wollen, ist eine der bedeutsamsten Fragen der Gegenwart. Die Gestaltung digitaler Begegnungs- und Kommunikationsräume war seit jeher ein wichtiges Anliegen der Netzkultur. Schon früh hat Digitale Kultur versucht, eine eigene Kultur des Digitalen zu etablieren, die den Bedürfnissen der Menschen tendenziell besser entsprechen soll, als es die Verwertung des Digitalen durch eine ökonomisierte Herrschaftsform vermag, die durch den unausgesetzten Zwang zum Tausch definiert ist. Dieser Bereich umfasst theoretische Grundüberlegungen zum egalitären Potential des Digitalen wie auch praktische Übereinkünfte hinsichtlich digitaler Kommunikationsformen, wie etwa die „Netiquette“, die die Umgangsformen in digitalen Fernräumen regelt, oder die Emoticons, die Emailkommunikation um die Kommunikationsdimension akustischer und mimischer Signale und Akzente ergänzen wollen.

Als Teilbereich der allgemeinen Form der Digitalen Kultur hat sich ebenfalls sehr früh die besondere Form der digitalen Kunst herausgebildet. Sie nimmt in der gleichen Weise auf das Wirklichkeitsmaterial der digitalen Welt Bezug, wie Kunst dies schon immer mit jener Realität getan hat, in deren Rahmenbedingungen sie entstand. Digitale Kunst verarbeitet das Material ihrer Realität in der alten Weise der Kunst: indem sie digitale Realität abbildet und in diese eingreift, sie mitgestaltet und verändert. Sie will dabei – ebenso wie es frühere Kunstformen unternommen haben – die digitale Welt, in der wir arbeiten, leben und uns begegnen, reflektieren. Dadurch sollen ihre Funktionsmechanismen bewusst gemacht werden, um zu verstehen, inwieweit auch die digitale Wirklichkeit nur ein Widerschein jener spätkapitalistischen Bedingungen ist, in denen sie entsteht. Dies kann helfen, überzogene Ansprüche an das Digitale (als formale Revolutionierung der Kommunikationsmedien) zu relativieren und genaue Kenntnisse der Möglichkeiten und Potentiale des Digitalen an die Stelle von medienspezifischen Illusionen und idealistischen Projektionen zu setzen, die im Sinne der alten Hierarchie von Geist und Materie eine mögliche Veränderung des Bewusstseins bereits als Veränderung der Welt ausgeben. Damit jedoch täuschen sie sich immer nur über ihre eigene Verfallenheit an spätkapitalistische Wirklichkeitsverhältnisse hinweg.

Hier entsteht die Möglichkeit, jenes andere zu zeigen und fasslich zu machen, das durch die technologische Revolution möglich wäre, wenn diese sich aus ihrem ökonomischen Verwertungszusammenhang herauslösen ließe. Dass die Mehrheit digitaler Praxen aber gerade diese aufrecht und am Leben erhält, müsste dabei freilich immer mitgedacht werden. Dies betrifft zum Beispiel Fragen des historisch älteren Urheberrechts, das mit einer digitalen Urheberrechtsrealität konfrontiert wird, in der es auf Grund der spezifischen Existenzweise digitaler Artefakte (als Reproduktionen) keine schützbaren Originale mehr gibt.

Auf diese Weise ist digitale Kunst heute Trägerin eines utopischen sowie eines praktisch aufklärerischen Potentials, das die Kunst in ihrer jeweils aktuellen historischen Erscheinungsform ausmacht, das jedoch immer mit ihrer zumindest scheinbar entgegengesetzten systemstabilisierenden Rolle kollidiert. Leider verschwimmt dieses Potential oft auf Grund der Erscheinungsweise einer digitalen Kunst, die sich nicht selten als die banale und unreflektierte Zurschaustellung spezifischer digitaler Gestaltungsoptionen zu erkennen gibt. Dass solche Medienkunst oft nicht mehr wirklich von „Werbung“ zu unterscheiden ist, spricht ein bündiges Urteil über sie. Dieses Manko wird durch ihre falsche, verkürzte und aus einer überalterten Vorstellungswelt heraus gespeiste öffentliche Wahrnehmung noch potenziert, die glaubt in digitaler Kunst bloß Spielerei mit technischen Gadgets erblicken zu müssen.

Dagegen setzt paraflows 2010 einen anderen Anspruch an digitale Kunst und Kultur: Das technisch Mögliche soll in seiner konkreten Praxis wie in der diese fundierenden Theorie mitgestaltet werden. Technologie darf nämlich keinesfalls denen überlassen werden, die sie bloß in das Bestehende eingliedern und nach dessen Maßgaben verwerten. Digitale Kunst, die sich bloß für die Realisationsseite des Technischen als Kunst interessiert, akzentuiert und ornamentiert dieses Verwertungsinteresse lediglich, indem sie jeglichen utopischen Gehalt des Technischen in die Bonsaiform der Verblüffung konkretisiert.

Neue Technologien eröffnen uns nicht bloß neue Möglichkeiten des Handelns, indem sie uns zu Dingen befähigen, zu denen wir vorher nicht in der Lage waren, und die wir dann nur noch – entweder lebenspraktisch oder ästhetisch – anhand technologischer Artefakte falsifizieren und verfizieren müssten. Jede Technologie enthält – in dem spezifischen Gebrauch, zu dem sie uns befähigt, also ihrem „Zuhandensein“ – das Potential neuer Erfahrungen, anderer Wahrnehmungen und illegitimer Denkungsweisen. Dies gilt auch für jene, die uns nicht selbst zum individuellen Gebrauch zur Verfügung stehen, aber von deren Existenz (ihrem „Vorhandensein“) wir wissen, weil sie den technischen Stand unserer Zeit repräsentieren.

Zum Beispiel hat bereits die Tatsache bemannter Raumfahrt unser Bild von dem Universum, in dem wir leben, verändert, ohne dass wir selbst schon in der Lage wären, die Erde zu verlassen. Dies wird bis auf weiteres das Privileg einiger SpezialistInnen bleiben, die Ausflüge im Weltraum im Auftrag derer durchführen, die diese aus einem ökonomischen und/oder ideologischen Verwertungsinteresse unternehmen, wie es beispielhaft das klassische „space race“ zwischen den USA und der UdSSR begründete. Und dennoch ist mit der menschlichen Raumfahrtgeschichte auch ein neuer Möglichkeitshorizont entstanden, der in zahllosen utopischen (oder dystopischen) Erzählungen ausformuliert wurde. Das Weltraumzeitalter – an dessen Schwelle wir gerade mal herantreten – hat die menschliche Erfindungsgabe angeregt, sich neue Formen des Zusammenlebens auszumalen, die mitunter aus ganz neuen ökonomischen Organisationsformen bestehen. Entscheidend hierbei ist nicht so sehr die realistische Qualität dieser Entwürfe als vielmehr ihre schlichte Existenz, die uns vor allem eines verdeutlicht: Wenn sich die technologischen Grundlagen der Gesellschaft verändern, dann steht deren gesamte bisher bekannte Form zur Disposition.

Dass dies möglich wurde, hat auch damit zu tun, dass die menschliche Kultur mit dem Weltraum erneut einen unbekannten, einen noch nicht erschlossenen und tendenziell endlosen Raum betreten hat, der die alte Disziplinierung der Vorstellungswelt aufzuheben vermag, die in der Gebundenheit an „die irdischen Bedingungen“ beschlossen lag. Mit dem Weltraum ist das Undenkbare wieder denkbar geworden, zum Beispiel in Form einer imaginierbaren Außenperspektive auf menschliches Zusammenleben. Diese Außenperspektive liegt in der (narrativen) Möglichkeit beschlossen, diese Welt mit den intelligenten BewohnerInnen anderer Welten zu konfrontieren. Dergestalt gestaltet und verändert Technologie unseren Zugang zur Welt. Die digitale Datenbereitstellung und -verarbeitung gibt uns nicht bloß neue Handlungsoptionen an die Hand, sondern sie implementiert gänzlich neue Vorstellungen davon, was möglich sein könnte.

Die Utopie – oder zumindest das Zukunftsverspechen – des Digitalen besteht, wie gesagt, darin, den dualistischen Imprint zu überwinden, mit dem unser Denken immer nur die alten Ordnungen perpetuiert. Beide sind dabei, sich miteinander in einer Weise zu verbinden, die eine Wiederauflösung in einander unverwandt gegenüberstehende Komponenten unmöglich machen wird. Wie schnell dies eintreten wird, darüber kann spekuliert werden, ebenso welche Gestalt die Materialität des Digitalen annimmt. Aber es ist denkbar (und es wäre wünschenswert), dass das in dieser spezifischen Verbindung beschlossene Verhältnis dann nicht länger eines der Herrschaft und der Vernutzung des einen durch das andere sein könnte, so wie das alte Verhältnis von Geist und Materie immer Verhältnisse und Verhältnisdimensionen von Herrschaft veranschaulichen und legitimieren half. Hier könnte tatsächlich jene künstliche Intelligenz entstehen, die wir heute schon im Horizont digitaler Technologie zu erblicken meinen, von der aber die bestehende Computertechnologie allenfalls ein Vorschein ist, der ihr Versprechen mit Plausibilität ausstattet.

Wie nämlich eine wahrhaft künstliche Intelligenz positioniert sein wird und wie sie sich zu uns und unseren Bedürfnissen in Beziehung zu setzen vermag, ist niemals vorherbestimmt. Selbst die kapitalistischen Verhältnisse, aus denen heraus wir sie uns heute imaginieren, können ihre Determinationskraft nur relativ auf diese übertragen. Vor uns liegt das Unbekannte, mit unbekannten Wechselwirkungen auf das, was ist und sein wird. Es geht in diesem Zusammenhang also vor allem darum, die (notwendigerweise immer unzureichenden) Vorstellungen mitzugestalten, die wir uns bereits heute von der technologischen Revolution machen, durch die wir erstmals mit wirklicher künstlicher Intelligenz konfrontiert sein werden. Nur so können wir verhindern, dass sie bloß ein Werkzeug von Verwertungsinteressen sein wird, die sich unserem Zugriff und unserer Mitbestimmung entziehen, weil die Intentionen, die sie verwirklichen, nicht die unseren – und vor allem nicht die eines Großteils der Weltbevölkerung – sein werden, sondern die Partikularinteressen der jeweils herrschenden Klasse.

Im Schnittpunkt von neuen Technologien und utopischen Vorstellungen ergeben sich Interventionsmöglichkeiten, die die alte politische und ökonomische Ordnung herausfordern und in Frage stellen. Vor diesem Potential entsteht natürlich auch jene aus der Geschichte bereits hinreichend bekannte Verklärungspraxis des Digitalen als Revolution, die als technische immer schon eine politische implizieren soll. Vor allem dazu muss digitale Kultur Stellung beziehen, wenn sie nicht bloß Reklame für neue Geräte, Apparate und Technologien sein möchte, die das Bestehende immer nur auf dessen jeweils nächsten Evolutionsstufe reproduzieren.

Künstliches Bewusstsein könnte nämlich durchaus die „natürliche“ (nämlich naturalisierte)  Bewusstseinsform obsolet werden lassen, die uns heute  noch im Bannkreis zahlloser ideologischer Zuschreibungen festhält. Wir werden allerdings dafür sorgen müssen, dass die Potentiale der Digitalität auch freigesetzt werden. Freigesetzt aus jenen engen Grenzen, die ihnen ein Verwertungsinteresse setzt, das sie nur als Optimierungsmöglichkeit individueller Probleme haben möchte, als relative Deterritorialisierung, die dann immer nur eine Reterritorialisierung gewesen sein wird. Diese Kämpfe haben heute bereits begonnen: Die digitalen Bedingungen kultureller Arbeit und die Digitalisierung kultureller Artefakte haben zum Beispiel den alten Begriff und das Prinzip des „Gemeinguts“ wieder auf die Agenda gesetzt, zunächst in Form der „Creative Commons“, die sich gegen das fortbestehende, aber unzeitgemäße restriktive Urheberrecht zu Wehr setzen. Das Copyright – das ausschließliche Verwertungsrecht des Urhebers oder der Urheberin am „geistigen Eigentum“ – entstammt dabei noch der historischen Formation des Buchdruckzeitalters. Marshall McLuhan hat es griffig „die Gutenberg Galaxis“ genannt. Digitale Arbeitsweisen und Kulturpraxen sehen sich – und ihr Potential – von einem solchen Urheberrecht blockiert. Und sie werden es über kurz oder lang so verändern, dass es sich den neuen Möglichkeiten anpasst, anstatt sich diese gefügig zu machen. Hier gilt es, das klassisch bürgerliche Urheberrecht zu überwinden, eben weil es eine Einschränkung kultureller Produktion und Distribution sowie demokratischer Teilhabe an gegebenen Gütern und Möglichkeiten darstellt.

Was zunächst nur ein diffuses Freiheitsverlangen und den Wunsch nach Unbeschränktheit im Bereich digitaler Mediennutzung artikulierte, ist längst auch in nicht-digitale Bereiche entwichen: Die Diskussion um so genannte „Commons“ hat zahlreiche Dinge benannt und miteinander in Verbindung gebracht, jene die privatisiert und in der Form des Privateigentums verwertet werden: die genetischen Codes von Heilpflanzen ebenso wie traditionelles Wissen, Bodenschätze und „Lebensgrundlagen“ (also Luft, Wasser oder Boden). All diese so unterschiedlichen Dinge will der Begriff „Commons“ wieder zu Allgemeinbesitz machen, und er kann sich dabei der Popularität der „Creative Commons“ bedienen, mit dem die verheerenden Auswirkungen des „Privateigentums“ auf unser aller Leben seit einigen Jahren thematisiert werden.

Im Angesicht des Digitalen ist es vorstellbar geworden, dass wir selbst an der Erschaffung und Optimierung von künstlichem Bewusstsein mitwirken. Damit sind wir in die Verantwortung genommen. Und wir haben erstmals die Möglichkeit aus jener Programmierung, unserem Bewusstsein als Kondensat gesellschaftlicher Wirklichkeit, auszubrechen, die uns zu dem macht, was wir sein sollen. Im Rückschluss von digitaler Alltagserfahrung auf unser Leben können wir die Vorstellung entwickeln, mit dem „Bewusstsein“ so zu verfahren, wie wir es mit „künstlicher Intelligenz“ längst gewohnt sind: Wir können es deprogrammieren, neu konfigurieren, formatieren, upgraden und bestimmte Programmfeatures, die wir nicht mehr brauchen, löschen. Wir können unser Geschlecht hacken und in den Quelltext unserer Subjektivität eingreifen. Dies alles ist sicherlich nicht so einfach, wie es die techno-euphorische und dabei auch reichlich „analoge“ Applikation von Begriffen des Digitalen auf unser gänzlich anderes „Betriebssystem“ suggeriert. Und es wird sicher nicht immer so einfach gelingen, wie wir es von den benutzerfreundlichen und selbsterklärenden Technologien gewohnt sind, die uns umgeben. Wichtig ist jedoch, dass es anhand von künstlicher Intelligenz tendenziell möglich wurde, unser eigenes Bewusstsein neu zu fassen und einen Verständnishorizont zu eröffnen, indem derlei Eingriffe akzeptabel erscheinen.

Das digitale Zeitalter versetzt uns aber auch in die Lage, die künstliche Intelligenz nach Gesetzen zu modellieren, die nicht mehr die Gesetze der Natur (also evolutionär) sind, denen unser Bewusstsein noch unterworfen ist. „Die menschliche Natur“ (als die spezifische historische Naturalisierungsform des Menschen) musste lange Zeit als Verhängnis und Schicksal herhalten, um Herrschafts- und Verwertungsinteressen in den Subjekten zu implementieren: als die logische und notwendige Konsequenz aus deren innerer Verfasstheit (etwa als „Frauen“). Unter den veränderten Prämissen des Geistes im Zeichen der Digitalität lassen sie sich erstmals neu verhandeln und auf diesem Wege verändern.
 
Wenn wir uns also mit digitaler Technologie an der Schwelle befinden, Bewusstsein künstlich herzustellen, so impliziert dies auch die Möglichkeit, dieses (künstliche) Bewusstsein mitzugestalten, und dies nicht denen zu überlassen, die es in der alten Weise kapitalistischer Produktion (auf der Basis des Marktes und seinen Konkurrenzkämpfen) nur „designen“ werden. Anders als diese – die TechnokratInnen der neuen Möglichkeiten – müssen wir darauf hinwirken, dass das Künstliche Bewusstsein einen evolutionären Fortschritt gegenüber den traditionellen abendländischen Bewusstseinsformen darstellt. Es muss das dualistische Absetzungsverhältnis des abendländischen Bewusstseins vom Materiellen korrigieren und seine Disposition zur idealistischen Verdrängung der Welt und des Leibes überwinden. Wenn uns das gelingt, dann hätten wir nicht bloß unser eigenes Bewusstsein als Künstliches reproduziert, wir hätte es verbessert und mit ihm die Welt verändert, die es hervorbringt, die es wahrnimmt.

Wenn wir uns als digitale Kultur darauf einigen können, dass die Möglichkeiten künstlicher Bewusstseinsformen nicht nur das jeweilige individuelle Interesse einzelner Produktentwicklungsabteilungen (und ihrer AuftraggeberInnen) widerspiegeln dürfen, so müssen wir kollektive und vernetzte Arbeitsweisen dagegensetzen. Die Möglichkeit, Bewusstsein künstlich zu schaffen und darüber sowohl das menschliche wie „das kulturelle Bewusstsein“ zu verändern, verlangt nach einer Überwindung der alten Entwicklungsabteilungsmonaden. Sie verlangt nach neuen Formen und Begriffen der Zusammenarbeit, die die alten Grenzen betrieblicher wie nationaler Konkurrenz durchbrechen und ein neues Menschheitsbewusstsein ins Werk setzen.

Eine solche Möglichkeit entsteht in der Regel da, wo neue Produktionsmittel eingeführt werden. Die letzte Möglichkeit hierzu – die klassische Industrialisierung – haben wir bereits verpasst (und auch der Sowjetkommunismus war nur der Versuch, noch nachträglich Korrekturen vorzunehmen). Mit der Digitalisierung bietet sie sich uns neu, auch wenn die digitalen Produktionsmittel heute noch von der alten Ordnung der Industriellen Revolution in Beschlag genommen werden.

Dagegen anzugehen und einen Raum zu reklamieren, der sich den kapitalistischen Bedingungen, unter denen Produktionsmittel besessen, verwaltet und benutzt werden, zumindest symbolisch widersetzt, ist die Aufgabe digitaler Kunst. Sie muss also nicht nur künstliches Bewusstsein mitgestalten und es so dem Einfluss der ProduktentwicklerInnen entziehen, sondern sie muss an ihm auch andere Arbeitsweisen zeigen, die ein gemeinsames Bewusstseins zusammenhält, dass sich dem Bewusstsein des vereinzelten spätkapitalistischen Subjekts entgegenstellt. Und sie muss das Bewusstsein aktiv mitgestalten, das wir vom Künstlichen haben werden, das entweder selbst ein „Common“ oder bloß das alte in neuem Gewand sein wird. Künstliches Bewusstsein muss allen gehören, schon weil es unser aller Leben in einer noch nicht überschaubaren Weise verändern wird.


Die Materialität der Daten: Zur Gebrechlichkeit des Entkörperlichten

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang natürlich das Problem der Datenmaterialität, dem paraflows 2010 breiten Raum einräumen wird. Hieran zeigt sich, dass das Digitale selbst niemals die frei schwebende Technologie gewesen ist, als die es bisweilen imaginiert wurde. Gerade das Problem der Datenträgerin innerhalb der Verwertung, Archivierung und Bewahrung digitaler Kulturartefakte macht dies deutlich: Als Produkt einer spezifischen Technologie ist sie immer an ein mediales Substrat gebunden, an die Technologie, die befähigt, vorhandene Speichermedien auslesen und für nachfolgende Generationen zu konvertieren.

Die technologische Entwicklung legt aktuell eher das Szenario einer „babylonischen Datenverwirrung“ nahe, die sich vor das Problem stellt, dass sich die Suprasprachlichkeit des digitalen Codes als Kultur- und Verkehrssprache einer globalisierten Welt wieder in ein Gewirr der Inkompatibilitäten und technologischen Ungleichzeitigkeiten auflösen könnte. Das wäre vor allem dann zu erwarten, wenn wir die technologischen Grundlagen der Digitalen Kultur privatwirtschaftlichen Interessen überlassen, die immer nur individuell an ihr interessiert ein können, niemals aber allgemein als etwas, das uns alle angeht.

Eine besondere Form, der marktwirtschaftlichen Schließung digitaler Öffentlichkeit zu begegnen, stellt die OpenScource-Idee dar, die die Entwicklung von Informationsverarbeitungstechnologie als kollektives Projekt betreibt. Die weit über den Netz- und PC-Bereich hinaus strahlende Bedeutung digitaler Kultur wird in diesem Zusammenhang an den vielen Projekten und Ideen deutlich, die hiervon inspiriert wurden, ohne in einem engeren Sinne dem digitalen Kulturfeld anzugehören. Der Vergänglichkeit digitaler Kultur möchten wir außerdem mit Exponaten aus der Frühzeit der digitalen Kunst entgegenwirken. Gemeinsam mit aktuellen Ausstellungsstücken sollen sie einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit der digitalen Kultur vermitteln und dazu anregen, sich selbst an ihrer Entfaltung zu beteiligen.


Offene Fragen gegen die marktwirtschaftliche Schließung der digitalen Kultur

Das fünfte paraflows-Festival für digitale Kunst und Kultur möchte daher sein Augenmerk auf jene Positionen und Praxen innerhalb der digitalen Kunstwelt richten, die die Frage nach den spezifischen Potentialen stellen, welche die Digitalität bereithält. Und die sich mit dem gegenwärtigen (also dem realistischen, kritischen und aufklärerischen) sowie dem zukünftigen (also dem utopischen) Potential von digitaler Kunst auseinandersetzen. Ausgehend von den Positionen, die paraflows in den letzten Jahren mit Schwerpunksetzung rund um den Raumbegriff formuliert hat, werden 2010 die BenutzerInnen des Digitalen ins Blickfeld rücken: Wie verändert Digitalität das, was wir sind oder zu sein meinen? In welcher Weise sind wir bereits kulturelle Cyborgs und wie können wir uns diesen Status auch zu Eigen machen, um ihn für unsere uralten oder soeben neu entstehenden Interessen zu nutzen? Welche Subjektivität ermöglicht das Digitale, und inwieweit ist in ihm die alte Aufspaltung des Menschen in einen Körper- und einen Geist-Pol potentiell aufgehoben? Welches Utopiepotential und welche fundamentalen Veränderungen hält die neue Welt aus digitalem Leben, digitalen Medien und digitaler Kunst für uns bereit? Und wie wollen wir uns zu diesem Versprechen verhalten? Was wollen wir dabei ergänzen?

Wir möchten damit zeigen, dass digitale Kunst – wie alle anderen Kunstformen auch – komplex und vielschichtig ist, und dass es in ihr gelungene und weniger gelungene, weiterführende und ungeeignete Ausformulierungen von Problemstellungen gibt, die nicht dem öffentlich zirkulierenden Bild von digitaler Kunst als Abenteuerspielplatz für technikbegeisterte Nerds entsprechen. Die digitale Kunst, die paraflows vorstellen und zusammenführen will, erhebt den Anspruch, an die spätmoderne Konzeptkunst anzuknüpfen, als eine besondere Form, dem Imaginären und Virtuellen, das uns längst ganz real umgibt, eine gestaltete Form zu geben.


Frank Apunkt Schneider / Günther Friesinger